Farbe in ihrer Autonomie – das ist das große Thema in Boyong Kims Werk, welches sie immer wieder aufs Neue und immer wieder mit überraschenden Resultaten behandelt. Ihre flirrenden Streifenbilder erforschen, entdecken und ordnen in feinsten Nuancen die verschiedenen Harmonien, untersuchen Wechselwirkungen und schaffen Farbräume, die dem Betrachter unerforschte Universen eröffnen.

Boyong Kims Arbeiten sind abstrakt – nichts Figürliches stört die Konzentration auf die Farbe als Bildmotiv. Gleichzeitig überrascht die Künstlerin stets mit dem unvergleichlichen Tiefenraum, welcher ihren Bildern trotz allem zueigen ist. In einem langwierigen Prozess überlagert sie einen farbig strukturierten Untergrund mit Linien. Unzählige Male wird die Acrylfarbe in feinen, teils lasierenden Schichten übereinander aufgetragen und lässt nach und nach eine fast räumliche Bildtiefe entstehen, welche aus purer Farbmaterie gebildet ist.

Dabei treten die Farben, ähnlich wie bei dem Colour-Field Maler Josef Albers (1888-1976), in Kommunikation. Sie wirken miteinander und behalten doch stets ihre Eigenständigkeit bei. Je länger wir vor den Bildern verweilen, desto mehr dieser Bezüge, Verbindungen und Abgrenzungen können wir entdecken, desto mehr feine und feinste Nuancen offenbaren sich. Mit zunehmender Betrachtung beginnt die Farbe schließlich zu vibrieren und ihr Volumen zu vergrößern. Das zweidimensionale Bild gewinnt an Plastizität. Wie bei dem amerikanischen Künstler Barnett Newman (1905-1970), dessen Bilder ebenfalls die Farbe in Bewegung bringen, gilt auch bei Boyong Kim, dass durch die Konzentration auf die Farbe die Rezeption der Bilder verändert wird. Wassily Kandinsky (1866-1944), der Urvater der Abstraktion, stellt die Rezeptionskette Künstler – Werk – Betrachter auf. Bei Newman ebenso wie bei Boyong Kim nun wird diese tradierte Dreigliedrigkeit um ein Kettenglied verkürzt. Denn durch die Abstraktion und scheinbare Inhaltslosigkeit des Bildes nimmt sich der Künstler beziehungsweise die Künstlerin vollkommen zurück. Raum und Zeit werden bedeutungslos, das Bild und der Betrachter bleiben in Zweisamkeit zurück.

Dem Rezipienten ist damit die Möglichkeit gegeben, sich von den Konventionen der figurativen Bildbetrachtung frei zu machen und sich zunehmend in die Farbe zu versenken. Bereits Barnett Newman, Mark Rothko und Ad Reinhardt wollten mit ihren abstrakten Werken Bilder der Meditation schaffen. Durch die „Leere“ der Abstraktion, das Fehlen von mit Inhalt aufgeladenen Bildkomponenten, bieten ihre Bilder, zu ihrer Entstehungszeit in noch ungewohntem Maß, Raum für Empfindungen. So evozieren auch Boyong Kims Bilder, je nach Farbskala und Farbharmonie, ganz unterschiedliche emotionale Stimmungen.

„Mit meinen Bildern ordne ich die Welt und meinen Kopf“, so die Künstlerin. Insofern ist man fast versucht, den Farbskalen der Bilder autobiographischen Inhalt zuzusprechen. Diese Emotionalität wird dadurch bestärkt, dass Boyong Kim den großen Einfluss von Musik auf ihr Werk betont. Vor allem Stücke des Barock, insbesondere von Bach, sind für sie Inspiration. Damit begibt sie sich wiederum in die gedankliche Nähe Wassily Kandinskys, für welchen die Musik und ihre Harmonien Vorbild für die Vorstellung einer neuen „kommunikationsfähigen“ Malerei sind. Die Farbe soll sich bei ihm, Tönen vergleichbar, zu Farbklängen verdichten. In den Bildern entstehen so Farbakkorde, die im Betrachter Emotionen auslösen.

Doch Boyong Kims Bilder erschöpfen sich nicht in Tiefenwirkung und Synästhesie. Denn trotz der Farbe als autonomem Kompositionselement scheinen sie doch nicht gänzlich abstrakt zu sein. Die waagrechten Linien erwecken Assoziationen an Horizonte, an Küstenstreifen und Landschaften. Für die Künstlerin selbst wirken die Arbeiten „als würden wir mit einem schnellen Zug reisen, der die Außenwelt wie eine Illusion der Farben in der Landschaft verwischen lässt. Manchmal wird so Naturhaftes in der Abstraktion durch Horizontalität erfahrbar.“

Gleichgültig woran sich der Betrachter beim Anblick von Kim Boyongs Arbeiten erinnert fühlt, welche Assoziationen sich in ihm bilden, so führt die Künstlerin doch eins in absoluter Klarheit und Eindeutigkeit vor Augen: wie vielfältig reine Farbe sein kann und dass abstrakte Malerei auch heute, gut ein Jahrhundert nach Kasimir Malewitschs schwarzem Quadrat auf weißem Grund, in ihrer Vielfalt weiterhin immer aufs Neue zu überraschen vermag.