„Kein Zeitalter hat je so viele Zeichen und Bilder produziert wie das unsere. Längst sind die Massenmedien zum eigentlichen Schauplatz des Sozialen geworden. Gesellschaft verwandelt sich in ein Bildschirmgeschehen, so dass wir bald nichts anderes mehr kennen als Zeichen und Bilder: Wir haben uns in unseren Bildwelten verloren wie in einem Labyrinth ohne Ausgang.“  Samuel Strehle[1]

Das 21. Jahrhundert ist wie kein Anderes zuvor ein Jahrhundert der Bilder. Facebook, Twitter, Instagram, ja überhaupt das gesamte Internet inklusive sämtlicher Massenmedien spinnen ein virtuelles Netz des Visuellen, der Daten und Informationen. Zunehmend bildet sich eine Parallelwelt, eine Simulation, die teils realer erscheint, als die Wirklichkeit selbst. Gabriele Walter findet in ihren neuen Arbeiten erstaunliche Mittel und Wege, diese rein auf Datenströmen basierende, virtuelle Welt zu visualisieren und ihr eine haptische, greifbare Form zu geben. In ihren Arbeiten auf Acrylglas nimmt das Netz fassbare Gestalt an und generiert Räumlichkeit. Diese Räumlichkeit ist eine neue Räumlichkeit, die sich aus den Eigenschaften des Netzes ergibt. Denn das Netz konstituiert sich gerade aus dem „Dazwischen“, aus den Leerstellen zwischen den Strängen und Verbindungen.

Über die durchscheinenden Acrylglasplatten ziehen sich feine Stränge. Erst bei genauerer Betrachtung ergeben sie ein vollständiges Netz. Die Protagonisten der Bilder, silhouettierte Figuren, bewegen sich vor, hinter und zwischen diesen Netzen. Teilweise scheinen die Netze sie einzusperren, teilweise auszusperren. Bei längerer Betrachtung verwandelt sich das Netz in einen Maschendraht – der Gedanke des Ein- und Aussperrens gewinnt an Gewicht. Sind die schemenhaften Figuren Teil des Geschehens oder davon durch das Netz abgeschnitten? Die Haltung und Gesten sind uneindeutig. Bückt sich die Gestalt oder macht sie sich zum Angriff bereit? Ist die vermummte Rückenfigur nur gegen Kälte geschützt oder gehört sie einer radikalen Gruppierung an? Und wenn dann welcher? Unwillkürlich konfrontieren die durch ihre lebhaften Farben bestechenden Arbeiten uns mit kritischen Momenten, welche wir als Betrachter im ersten Moment nicht erwartet hätten.

Denn sosehr das globale Netz uns neue und ungeahnte Möglichkeiten eröffnet hat, sosehr werden gerade in jüngster Zeit seine Schattenseiten thematisiert. Jeder ist immer und überall mit allem verbunden. Daten werden ausgetauscht und sowohl von Seiten der privaten Nutzer, als auch von Seiten großer Konzerne und politischer Systeme missbraucht. Das Buch „The Circle“ entwirft das Szenario eines gläsernen Menschen, dessen Daten sämtlich über das Netz verfügbar sind. Dystopische Visionen wie der Film Matrix aus dem Jahr 1999 gehen noch einen Schritt weiter – hier ist die Welt wie wir sie kennen nur noch eine Simulation für den Geist der Menschen.

Medienphilosophen setzen sich bereits seit längerem mit der Netz-Thematik auseinander. Jean Baudrillard konstatiert, dass es in einer Welt in einem derart fortgeschrittenen Zustand der Verbildlichung zunehmend unmöglich wird, den Unterschied zwischen Bild und Wirklichkeit überhaupt noch zu bestimmen.[2] Humorvoll und durchaus ironisch führte dies jüngst die Künstlerin Amalia Ulman vor Augen, die auf Instagram über Monate hinweg ein Leben postet, welches sie nie geführt hat.

Gabriele Walters Ansatz ist hier ein anderer, jedoch genau so sehr dem Zeitgeist verhafteter. Zunächst einmal fangen die Arbeiten die Aufmerksamkeit des Betrachters durch die knalligen und dekorativen Farben, die harmonisch aufeinander abgestimmten Formen und vor allem durch die dem Acrylglas innewohnende Transluzenz. Gerade die gefalteten Wandplastiken verändern dabei je nach Lichteinfall ihre Farbe und scheinbar auch ihre Form. Sie machen Räumlichkeit auf beeindruckende Weise greifbar. Das Licht durchdringt die Oberfläche an all den Stellen, an welchen sie nicht bemalt oder beklebt wurde. Postmoderne Hinterglasmalerei könnte man dieses Verfahren betiteln, welches in der Tradition der bemalten Kirchenfenster steht. Diese Reminiszenz ist insofern besonders interessant als Kirchen intensiv mit Raumwahrnehmung gearbeitet haben. Das ganze Kirchengebäude wurde so geplant, dass mithilfe von Licht und Blickachsen ein möglichst imposanter Raumeindruck entstand, der die Anwesenheit von etwas nicht Greifbaren, nämlich dem Göttlichen, vermitteln sollte. Die Räumlichkeit in Gabriele Walters Bildern ist ähnlich gedacht – auch sie versucht über die Komposition und die Blickdurchlässigkeit des Materials die Präsenz von etwas haptisch nicht Fassbarem zu vermitteln. Fast fragt man sich bei diesen Parallelen, ob das globale Netz in Gabriele Walters Arbeiten kritisch als die Glaubenshoheit der postindustriellen Gesellschaft hinterfragt wird.

Doch zurück zum Raum. Bereits 1967 diagnostiziert Michel Foucault den Anbruch einer Epoche des Raumes – wir seien, so sagt er, nun in ein Zeitalter der Gleichzeitigkeit eingetreten, dessen Ordnungsstruktur das räumliche ‚Netz’ ist.[3] Dieser sogenannte Spatial Turn[4] macht deutlich, dass das globale Datennetz unser Denken über die Welt maßgeblich beeinflusst. Charakteristisch für dieses neue Denken ist, dass letztlich nichts mehr als wirklich vergangen im Sinne von „überwunden“ gelten kann.[5] Alles ist immer überall noch präsent und dennoch nicht unbedingt real. Damit ist dem Raum zum einen in Bezug auf seinen Realitätscharakter der Boden entzogen denn oftmals ist es uns unmöglich Wirklichkeit und Fiktion auseinander zu halten. In zweiter Instanz ist der Raum insofern bodenlos, als ein Netz keinen definierten Boden besitzt.

Damit beinhaltet der Titel der Ausstellung das Nachdenken über die aktuelle Strukturierung sowohl der Gesellschaft, als auch unseres Denkens. Die Arbeiten von Gabriele Walter versuchen uns unsere Realität vor Augen zu führen. Besonderen Bezug zu unserer eigenen Wirklichkeit und damit ein großes Identifikationspotenzial stellt die Künstlerin her, indem sie „Zivilisationsmüll“ als Material in ihre Arbeiten integriert. Neben Image-Transfers und Multisamples bestehen viele Elemente der Bilder aus Klebeband-Collagen, die sie aus Reststücken fertigt. Bereits Pablo Picasso integrierte Schnipsel von Zeitungen in seine Bilder, Robert Rauschenberg gar ganze Objekte. So steht Gabriele Walter in der Tradition künstlerischer Positionen, für welche die Kunst eine Möglichkeit ist unsere Reflexion über die Welt anzustoßen.

Darüber hinaus sind die „Tapescapes“, wie Gabriele Walter die Collagen aus Klebeband-Fundstücken nennt, wiederum eine Metapher für die Globalisierung. Sie versinnbildlichen die Waren-, Verkehrs- und Informationsströme.

So schließt sich der Kreis und Signifikat und Signifikant, Zeichen und Bezeichnetes, stimmen in mehrfacher Hinsicht überein.

[1] Samuel Strehle: Zur Aktualität von Jean Baudrillard. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden 2012, S.95.
[2] Ebd.
[3] Michel Foucault: Von anderen Räumen, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. Von Jörg Dünne und Stephan Günzel, Frankfurt am Main 2006. S. 317-329.
[4] Zum Begriff des Spatial Turn siehe: Jörg Döring/Tristan Thielmann: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008.
[5] Marc Jongen: Philosophie des Raumes. Standortbestimmungen ästhetischer und politischer Theorie. 2. korr. Auflage, München 2010, S. 10.